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Im Mai 2011 bin ich nach 6 Jahren in Irland zurück nach Deutschland gezogen und habe diesen Blog eingestellt. Mein neuer Blog heißt Geist und Gegenwart und ist unter www.geistundgegenwart.de zu erreichen.

Donnerstag, 28. August 2008

Dublin, Mai 2005 II

Di. 10.05. Entgegen meiner ursprünglichen Absicht gleich nochmal in die Nationalgalerie zu gehen, habe ich den ganzen Tag im Park (Marrion Square neben der Galerie) rumgehangen. Vor allem, weil das Wetter so schön war, außerdem weil ich immer noch einen Anruf erwarte und in der Galerie Telefone nicht erwünscht sind und drittens, weil ich mich wieder in den Corrections festgelesen habe. Dieses Buch spiegelt so deutlich wieder, was mich in den USA manchmal so genervt hat: der spießig-zwanghafte Umgang vieler Menschen untereinander. Das wird in den Corrections vor allem in Enid, der Mutter der portraitierten Familie, figuriert. Sie versucht das Leben aller anderen Menschen um sich herum zu lenken, zu managen. Wenn ihr das nicht gelingt, dann sind ihr andere Menschen peinlich. Individualität, Unangepasstheit und Spontanität sind ihr ein Greuel. Sie glaubt, für alles Verantwortung übernehmen zu müssen und kann damit selbst natürlich nicht glücklich werden.

Alle anderen durchkreuzen immer wieder ihre Pläne, beharren auf ihrer Individualität und stören so Enids vermeintlich wohlgeordnete Welt. Ihr Compagnion ist ihr ältester Sohn Garry (erfolgreich, verheiratet, drei Söhne), ihre Gegenspieler sind ihr Mann Alfred (senil, inkontinent, dickköpfig), die Tochter Denise (geschieden, bisexuell, talentiert mit instabiler Karriere) und der Sohn Chip (intellektuell, Exproffessor - gefeuert wegen sexueller Beziehung zu einer Studentin - und zeitweise illegaler Entrepreneur in Vilnius). Enids einziger Wunsch ist es, die ganze Familie zu einem letzten Weihnachtsfest in ihrem Haus zusammenzubringen. Zwischendurch wird sie abhängig von Psychopharmaka, Alfred fällt während einer Kreuzfahrt 8 Stockwerke tief vor Kanada in den Nordatlantik, Garry bekommt von seiner Frau eine kräftige Depression verschrieben, Denise schläft erst mit der Frau ihres Chefs und dann mit ihm selber (alles kommt raus, sie wird gefeuert und verlassen) und Chip geht in den poltischen Wirren in Vilnius verloren. Es ist alles sehr schön unwahrscheinlich und doch beschreibt es ganz passend einen Snapshot unserer Welt und zeigt dabei, was in privaten (sogar neurologischen) und globalen Zusammenhängen so alles außer Kontrolle gerät. Am Ende des Buches gelingt es Franzen erstaunlich gut aus der Perspektive erster Hand einen Zustand zu beschreiben, zu dem er mit Sicherheit keinen Zugang hat: Demenz, Verwirrtheit, das Auseinanderbrechen der kohärenten Welt für das Individuum.

Nachdem ich akzeptiert hatte, dass mich auch heute niemand von Google anrufen würde, habe ich mich noch auf fünf andere (weniger schöne) Jobs beworben und bin vom teuren Parnell Square (50,- pro Nacht) in die billige Marlborough Street (15,-) umgezogen. In diesem Hostel mitten in der Stadt wohnen vor allem Leute, die vorrübergehend in Dublin arbeiten. Sie zahlen eine wöchentliche Rate von 85 Euro und schlafen in 6-Bett-Zimmern in Dublin City. Man gewöhnt sich daran, glaube ich, so wie man sich auch an ein Gefängnis gewöhnen würde. Dumm ist nur, dass niemand vernünftig Englisch spricht. Ich glaube, bis ich Bescheid weiß, werde ich auch erst einmal hier bleiben. Gegen 20 Uhr bin ich dann in einen Pub auf der O'Connell Street gegangen und habe zusammen mit zwei Guinness Manchaster United gegen Chelsea gesehen. Leider hat ein Japaner, der neben mir saß, ständig alle Spielernamen auf Japanisch aufgesagt und immer hysterisch gequiekt, wenn es eine Torchance gab. Und leider hat Man U 1:3 verloren. Aber es war, wie immer, wenn britische Mannschaften gegeneinander spielen, ein sehr schönes, schnelles und aggressives Spiel.

Mi. 11.05. Als ich mit Schmerzen aus den Knochen und Lärm aus der Straße erwachte, wunderte ich mich etwas: Wie kommt es, dass ich in der Marlborough Street in einem 15-Euro-Bett auf drückenden Metallfedern liege und fünf andere Menschen liegen auch im Zimmer? Ich kenne die Menschen kaum und alles kommt mir so endlos und unentwirrbar vor: diese sechs Leben, die von diesem historisch-geographischen Punkt aus strahlenförmig in Zukunft und Vergangenheit reichen und einfach irgendwo aufhören. Das Wetter war erst schön und bald typisch irisch. Solange die Sonne schien, hing ich etwas auf dem Campus rum, las in den Corrections und fühlte mich wohl, so zu tun, als sei ich ein Student. Der unablässige Ostwind vertrieb mich dann erst ins Museum für Naturgeschichte. Da kann man auch nicht viel mehr lernen als in der Berliner Veteranenstraße, außer vielleicht, dass Irland riesig große Fische hat oder hatte. Besonders beeindruckend waren der Riesenhai und der im Durchmesser zwei Meter große Mondfisch (hier: Sunfish), der in einem irischen See gefangen worden sein soll. Unglaublich war auch das Exponat eines Irischen Wolfshundes: so groß wie ein ausgewachsener Löwe und sehr schön proportioniert. Ein beeindruckendes Tier, dem man sicher nicht zufällig in der Landschaft begegnen möchte. Der Impuls wegzurennen wäre zu übermächtig, fürchte ich - und lebensgefährlich.

Anschließend war ich im National Museum für Geschichte. Leider war es mit Schulkindern überfüllt, die sich die von Äxten gespaltenen Schädel ihrer Vorfahren ansahen. Äxte, so konnte man lernen, waren die Lieblingswaffen der Iren. Sie mussten nicht, wie die Schwerter der hohen englischen Ritter, erst ausgepackt werden, sondern konnten - weil immer mitgeführt - bei jeder Meinungsverschiedenheit sofort böse Wunden zufügen. Sobald jedoch Schusswaffen entwickelt wurden, war es aus mit der mittelalterlichen Kampfkunst. Äxte, Schwerter, Schilde, Rüstung oder schnelle Pferde - alles sinnlos gegen Kugeln. Interessant sind die Ogham Scripte (4. - 6. Jh.): wagerechte Schnitzer in Stein oder Holz, die nach einem Schlüssel decodiert in lateinische Buchstaben übersetzt werden konnten. Gleich nebenan ist die Nationalbibliothek, die zur Zeit eine Ulyssess Ausstellung zeigt. Die kombiniert ganz wundervoll konventionelle Exponate (Erstausgaben, Joyce-Manuskripte, Einrichtungsgegenstände, Photos, Karten) mit 3D-Multimedia-Anwendungen und Video-Projektionen. Wenn ich weiterhin Zeit haben sollte, muss ich unbedingt noch einmal hin.

Heute Nachmittag gab es gute Nachrichten von Jean Ryan Hakizimana, ein Freund aus Ruanda, den ich in Limerick kennengelernt habe. Er hat seinen Emigrantenstatus offiziell zugeschrieben bekommen und kann nun auch Geld in Irland verdienen. Jean ist bereits ein wenig prominent in Irland, weil er der erste Künstler ist, der den Völkermord in Ruanda überlebt hat und hier in Irland seine Bilder malt. Ich habe ihm eine Webseite (www.jeanart.org) gebastelt und er hat mir dafür eines seiner afrikanischen Bilder (Flamingo) geschenkt. Wenn man seine Geschichte hört (seine gesamte Familie wurde in Ruanda getötet, er selbst war Jahre lang eingesperrt), weiß man, dass man als Mitteleuropäer eigentlich gar keine wahren Probleme hat. Abends war ich wieder im Pub und habe Arsenal gegen Everton gesehen - 7:0 - ein unglaublich hoher Sieg des Tabellenzweiten über den Vierten.

Do. 12.05. In der letzten Nacht konnte ich wieder kaum schlafen. Ein Mädchen im Zimmer hustete immerzu, ein Mann schnarchte die ganze Zeit, es war zu warm, zu hell, ich hatte keinen Platz, die Matratzenfedern piekten immer noch. Ich hatte Nacken- und Schulterschmerzen. Gestern dachte ich noch, es lag an mir, manchmal schläft man eben nicht gut. Gegen 4:30 Uhr (ich schaute dauernd auf die Uhr) schlief ich dann doch ein und gegen 8 waren die Schmerzen verschwunden. Trotzdem war jetzt klar, dass es Zeit wurde, diesen scheiß Ort zu verlassen. Ich suchte mir gleich ein anderes Hostel in der Nähe. Es macht einen besseren Eindruck, auch wenn unmittelbar nach meinem Erscheinen (vor ca 40 Minuten) der Feuerarlarm des Hauses ausgelöst wurde. Der arme Rezeptionist ist total aufgelöst, rennt im Haus rum und findet das Problem nicht. Ich werde jetzt mal ins Internetcafé gehen und einen Flug buchen, das scheint hier noch zu dauern.

Gerade als ich das Haus verlassen wollte, hörte der Arlarm auf. Der Rezeptionist kam überglücklich zu mir gerannt und meinte, ich sollte mir ansehen, woran es gelegen hatte, ich würde es nicht glauben. Ich hatte die ganze Zeit dunkel geahnt, dass der Arlarm etwas mit mir zu tun haben musste. Der Rezeptionist zeigte mir, wie der Schlüssel, den er für mich gesucht hatte, vom Haken gerutscht war und auf den Panikknopf gefallen war. Der Panikknopf war hinter einem Schränkchen versteckt und nur durch gezieltes Schlüsselwerfen erreichbar (sehr irisch!). Der Rezeptionist hatte diesen Knopf jedenfalls noch nie gesehen, hatte nicht einmal eine Ahnung von seiner Existenz gehabt. Wir beide lachten erleichtert und rieben uns minutenlang die Ohren. Im Internetcafé gelang es mir dann für Samstag einen Flug zu buchen und eine letzte Dringlichkeitsmail an Google abzusetzen. (Mir wurde daraufhin salomonisch versichert, dass ich sofort Bescheid bekäme, wenn eine Entscheidung fallen würde.)

Den Rest des Tages verbrachte ich umherstreifend in Cafés, Parks und Pubs. Ich las "Dubliners" von James Joyce (Alfred aus den "Corrections" war inzwischen tot, die Familie um einiges glücklicher hinterlassend, den Leser angemessen ratlos aus der Geschichte entlassend). In den Straßen südlich vom Liffey rieben sich die Touristen aneinander. Ein paar Dutzend Cluster junger Iren versuchten Spenden für wohltätige Zwecke einzutreiben. Frühlingshaft kostümierte Frauen schleppten biwakgroße Papiertüten im Zickzack (von Brown Thomas zu Clarks und zurück zu Pennys) durch die Grafton Street. Pantomime trotzen dem vitalen Strom des Konsums und Musiker aus allen Erdteilen kakophonierten zum Verkehrslärm. Das ist nur die Vorsaison, dachte ich. Im Sommer wird man wohl gar nicht mehr in die Innenstadt kommen. Ich muss mir, sollte ich hier leben müssen/können, eine kleine Vorstadt am besten in Meeresnähe suchen. Ich flüchtete in den nächsten Park. Doch auch der St. Stephen's Green am Fuß der Grafton Street war ziemlich voll. Die etwas abseits gelegenen Parks sind nur zur Lunchzeit bevölkert, wenn das arbeitende Volk seine Sandwiches in der Sonne isst.

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